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Autoplenum, 2010-08-04

125 Jahre Reitwagen - Hölzerner Feuerstuhl

Testbericht

Stefan Grundhoff

Für die meisten beginnt das automobile Zeitalter im Jahre 1886 mit der
Erfindung von Patent-Motorwagen und Motorkutsche der Herren Carl Benz
und Gottlieb Daimler. Doch bereits 1885 lässt Gottlieb Daimler seinen
Reitwagen tuckern. Der Startschuss in die Mobilität.

Das braun-schwarze Ungetüm mutet an wie eine Mischung aus Kutsche
und einem Motorrad mit Stützrädern. Genau genommen war der
Reitwagen, den Gottlieb Daimler am 29. August 1885 zum Patent mit der
Nummer 36423 anmeldete, genau das. 90 Kilogramm schwer, 0,5 PS
stark und mit einen tuckernden Einzylinder-Triebwerk ausgestattet, war
der Reitwagen Vorläufer aller Motorräder und Automobile. Die ersten Meter
legte Daimler nach jahrelangen Entwicklungen vor seiner damaligen
Werkstatt in der Taubenheimstrasse in Bad Cannstatt zurück. Die erste
längere Testtour von Bad Cannstatt bis ins drei Kilometer entfernte
Untertürkheim fuhr dann sein Sohn Adolf.

Einfach aufsteigen und losfahren – daran ist bei dem 125 Jahre alten
Reitwagen auch heute nicht zu denken. „Es dauert ungefähr 15 bis 20
Minuten bis der Motor angezündet ist und läuft“, erklärt Michael Plag, bei
Daimler Experte für die ältesten der alten Fahrzeuge, „der Reitwagen
besteht aus besonders stabilem Eschenholz; die Motorteile aus Bronze,
Messing und Stahl.“ Auf dem Holzgestell gibt es einen Ledersattel, einen
dünnen Lenker und zwei Fußstützen. Mit dem ersten Hebel links vor der
Sattel wird die Verbrennung fein justiert; mit dem zweiten Hebel in Form
einer Bonanza-Gangschaltung stellt der Fahrer die Riemenspannung für
den Antrieb des Hinterrades ein. Zieht man den Griff nach hinten, tuckert
der Reitwagen mit einigem Zucken los. Wird der Griff nach vorne gedrückt,
bremst das ungewöhnliche Fahrzeug ab, indem eine Bremse direkt auf das
mit Stahl ummantelte hintere Wagenrad drückt.

Den Viertakt-Einzylinder-Motor hat Gottlieb Daimler in der Werkstatt neben
seinem damaligen Wohnhaus selbst entwickelt und immer wieder
verbessert. Zentrale Elemente sind die Glührohrzündung, das Schwungrad
aus Bronze, ein Einlaß-Flatterventil und ein gesteuertes Auslaßventil. „Der
Reitwagen fährt mit Leichtbenzin, wie es damals üblich und in der
Apotheke zu bekommen war“, blickt Oldtimer-Experte Michael Plag zurück,
„das ist ein verbrennungsfähiger Kraftstoff – Hexan N.“

Da ein Tank fehlt, wird der Kraftstoff vor dem Start direkt in den
Brennraum eingefüllt. Dann wird eine in Spiritus getränkte Lunte aus der
Halterung am dünnen Lenker gezogen und angezündet. Damit wird das
Glührohr, das sich unter dem belederten Sattel befindet, mühsam auf
Temperatur gebracht. Michael Plag hilft heute mit dem Brenner etwas
nach. Nach ein paar Minuten glüht der Stab kirschrot und nach dem Start
mit der Kurbel kann die Zündung eingestellt werden. Den Ledersitz wieder
drauf und aufgesattelt – es kann losgehen. Eine Mischung aus
unkontrollierten Explosionsgeräuschen und dem von Trabbi und Co
bekannten „Töff-Töff-Töff“ durchzieht den kleinen Park vor der Daimler-
Gedenkstätte, die im hellen Mittagslicht strahlt. Der hölzerne Donnervogel
setzt sich mit seinen 0,5 PS und rund 150 U/min sanft holprig in
Bewegung. Das mit Metall bespannte Hinterrad dreht kurz durch, der
Reitwagen kippt nach links und wird von dem Stützrad sicher abgefangen.
Es poltert und klappert – schließlich verfügt der Reitwagen über keinerlei
Federung.

Lenk- und Fahrgefühl sind ähnlich hölzern wie der Eschenrahmen des
Zweirades und mit kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit geht es den
winzigen Anstieg in der Parkanlage hinauf. Stefan Plag läuft zur Sicherheit
nebenher und schnauft zufrieden, als Fahrer und Holz-Drahtesel eine
scheinbar fahrsichere Symbiose bilden. „Die Kurven ganz weit ausfahren
und immer entgegen der Fahrtrichtung auf das Stützrad lehnen“, ruft er
hinterher. Doch die Gedanken des Piloten wühlen längst tief im Jahre
1885. Hier nur ein paar Meter entfernt hat Daimler dem Reitwagen das
Fahren beigebracht. Man würde lügen, würde man sich nicht ein kleines
bisschen als automobiler Pionier führen, während unten auf der begrünten
Taubenheimstraße ein Opel Vectra älteren Baujahrs vorbeidröhnt.

Der Daimlersche Reitwagen ist nicht das Uhrmodell aus dem Jahre 1885.
Das Original ist beim Brand des Werkes Untertürkheim im Jahre 1903 den
Flammen zum Opfer gefallen. 1985 – zum 100. Geburtstag – vergab
Mercedes-Benz den Auftrag, zehn dieser Reitwagen nach originalen
Maßstäben nachzubauen. „Einer dieser Reitwagen blieb bei uns im
Museum“, so Stefan Plag weiter, „die anderen gingen in verschiedene
Länder. Richtig fahren kann jedoch nur dieser hier.“ Der Aufwand, den
Reitwagen nachzubauen, war enorm. Das Holz für den Rahmen stammt
von einem Kutschenbauer aus dem Schwarzwald; die Metallteile kommen
aus der Mercedes-Gießerei. Michael Plag: „Das Projekt dauerte damals rund
eineinhalb Jahre. Ein solcher Nachbau dürfte allein an Arbeits- und
Materialaufwand rund 100.000 Euro kosten.“ Doch der Wert für die
Geschichte der mobilen Fortbewegungen war durch das Daimler-Patent
vom 29. August 1885 deutlich größer. Schließlich wurden wenige Monate
danach die echten Auto-Vorläufer Patent Motorwagen und die vierrädrige
Motorkutsche vorgestellt. Es war eben eine bewegte Zeit.

Quelle: Autoplenum, 2010-08-04
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