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Testbericht

Benjamin Bessinger/SP-X, 2. Juli 2021
SP-X/Obertürkheim. An Tagen wie diesen hat Andreas Rauscher für den großen Stern auf dem Mercedes-Museum keinen Blick. Zwar dreht der sich nur einen guten Steinwurf von seinem Arbeitsplatz entfernt am Horizont. Doch als Winzer an den Neckarhängen von Obertürkheim ist der junge Schwabe gerade zu sehr mit dem Stutzen der Triebe beschäftigt, als dass er lange den Blick schweifen lassen könnte. Außerdem muss er nicht in der Ferne nach den Sternen schauen, sondern nur vor seiner Brust. Denn wenn er nicht zu Fuß durch die steilen Hänge stiefelt oder unten im Tal hinter dem Tresen seiner Besenwirtschaft steht, sitzt er in einem Unimog und kurvt durch die Weinberge. Genau wie es schon sein Vater getan hat und sein Opa auch.Denn der Unimog wird von Generation zu Generation weitergereicht und ist älter als Rauscher. Während der jüngste Spross der Winzer-Familie erst 1985 geboren wurde, ist der – wie passend – weinrote 412er Baujahr 1976 und nach ein paar Jahren im Werksfuhrpark exakt seit dem Geburtsjahr des Juniors bei den Rauschers im landwirtschaftlichen Dienst.Diesen Veteran in Rauschers 5,5 Hektar großen Weinberg zu fahren, braucht es allerdings eine gewisse Übung – nicht nur, weil die Gassen unten in Obertürkheim bisweilen arg eng und die Feldwege darüber entsprechend steil sind. Sondern vor allem, weil die Technik aus einer Zeit stammt, als man die Menschen am Lenker noch ehrfürchtig Kraftfahrer nannte – und zwar nicht ohne Grund: Man braucht schon ein paar Muskeln, um das Lenkrad in den Serpentinen durch die Reben herum zu reißen, jeder Gangwechsel ist ein Kraftakt, und weil das Getriebe nicht synchronisiert ist, muss man beim Schalten auch noch Zwischengas geben – und das alles, während der Unimog in Zeitlupe wie eine Bergziege durch den Wingert kraxelt und links und rechts die Reben für den Trollinger so dicht stehen, dass man die Triebe fast aus dem Fenster heraus abschneiden könnte. Und stets die Sorge, man könnte den Vierzylinder abwürgen.Wo sich Laien am Lenkrad bisweilen etwas schwertun, erst recht, wenn sie Servolenkung und Doppelkupplungsgetriebe gewohnt sind, steuert Rauscher den Veteranen virtuos durch den Wingert – kein Wunder, denn Unimog fahren konnte er schon lange, bevor er Autofahren durfte, ruft er in den Lärm des Diesels, der tapfer unter der buckligen Haube tuckert.Geschwindigkeitsrekorde darf man dabei keine erwarten. Schließlich entwickelt der 2,4 Liter große Diesel gerade einmal 52 PS. Aber dafür Kraft, jede Menge Kraft: „Kein Berg ist ihm zu steil und kein Anhänger zu schwer“, sagt der Winzer, als es beim Gangwechsel kurz noch einmal still wird, steigt dann mit schweren Stiefeln wieder aufs zierliche Pedal und treibt den rüstigen Rentner weiter den Berg hinauf.  Und wenn er doch mal unten im Tal auf der Straße unterwegs ist, schafft er immerhin 67 km/h. Selbst ins über 60 Kilometer entfernte Heilbronn hat er es so schon mal geschafft, erzählt Rauscher von einer Spritztour, die so zum Tagesausflug wurde. Aber in der Regel schleppt der Unimog nur seine zwei Anhänger die paar Kilometer zur Winzergenossenschaft. Oder er wird mal als Hochzeitsauto zweckentfremdet – aber da haben die Passagiere dann auch keine Eile und kosten jede Minute aus.Natürlich lassen sich Weinberge heute komfortabler bestellen, räumt Rauscher ein und erzählt von Kollegen, die längst auf moderne Traktoren umgestellt haben. Hatte hier früher jeder zweite Winzer einen Unimog, ist seiner heute einer der letzten. Doch die Traktoren mögen vielleicht einfacher im Handling sein, aber eben nicht im Einsatz. Denn was als Trecker zwischen den Reben fahren kann, das ist für den Straßenverkehr zu klein. Und wenn es darum geht, die Lese einzufahren und die Trauben zur Kelter zu bringen, mangelt es ihnen an Zugkraft.Da wird der rote Rentner seinem Namen mal wieder völlig gerecht – nicht umsonst steht Unimog für Universal-Motor-Gerät. Die Idee vom universellen Einsatz war der Grundgedanke, mit dem vor exakt 75 Jahren die ersten Prototypen des vielleicht berühmtesten Nutzfahrzeugs im Land auf die Räder gestellt wurden. Gedacht war der Unimog als eine Mischung aus Traktor und Lastwagen und wurde so zum Inbegriff des Ackerschleppers. Aber mit seiner rustikalen, unverwüstlichen Technik, den vielen Anschlussmöglichkeiten für die unterschiedlichsten Zusatzgeräte und der schier endlosen Traktion des zuschaltbaren Allradantriebs hat er es auch weit jenseits der Landwirtschaft zu Ruhm gebracht: Er war und ist die erste Wahl als Dienstwagen von Stadtreinigern, Feuerwehrleuten und Katastrophenschützern, schleppt im Werksverkehr als Zwei-Wege-Fahrzeug auf Schienen ganze Züge und bringt Forscher oder Abenteurer in die entlegensten Winkel der Welt. Und beim Militär hat er ebenfalls Karriere gemacht. Macher loben die Summe seiner Allrounder-Eigenschaften, die ihn zum unverzichtbaren Helfer und zum sympathischen Helden machen. Und Manager sein Image. So rühmte der einstige Daimler-Chef Dieter Zetsche den Unimog als John Wayne unter den Nutzfahrzeugen: „Der braucht keine Straße, sondern nur einen Auftrag“, schwärmte der Daimler-Chef.Seine Entstehung verdankt das Universal-Motorgerät dem amerikanischen „Morgenthau-Plan“, nachdem Deutschland in ein fabrikloses Agrarland verwandelt werden sollte. Diese trüben Aussichten beflügelten den Erfindergeist von Albert Friedrich, der zum Kriegsende die Flugmotoren-Konstruktion von Daimler-Benz geleitet hat und für seinen eigentlichen Job so schnell keine Zukunft mehr gesehen hat. In ihm reifte die Idee für ein universell einsetzbares und extrem geländegängiges Fahrzeug, das mit seinen vielseitigen Fähigkeiten alle Bedürfnisse des zu befürchtenden Bauernstaates befriedigen sollte. Deshalb erstellte Friedrich zusammen mit seinem Kompagnon Heinrich Rößler im Spätsommer 1945 ein Lastenheft, das nicht nur hohe Bodenfreiheit, steile Böschungswinkel und vorbildliche Traktion forderte. Darüber hinaus standen darin auch eine Ladefläche, mindestens einer Tonne Tragkraft, zahlreiche „Zapfwellen“ für den Betrieb von Zusatzgeräten, ein Geschwindigkeitsbereich von 3 bis 50 km/h, eine standfeste Bremsanlage und ein halbwegs komfortables Fahrerhaus mit mindestens zwei Sitzplätzen. Wer sich für den Unimog entscheide, so die Idee der Planer, der könne im Ernstfall auf seinen Traktor, den Pritschenwagen und den Pkw verzichten.Weil Daimler zu dieser Zeit vollauf damit beschäftigt war, in Untertürkheim die Pkw-Produktion wieder in Gang zu bringen, mussten sich Friedrich und Rößler für die Produktion nach anderen Partnern umsehen. Fündig wurden sie zunächst bei „Eberhard & Söhne“ in Schwäbisch Hall, wo nach einem langwierigen Genehmigungsprozess der amerikanischen Besatzungsmacht im Herbst 1946 die ersten zehn Prototypen gebaut wurden. Sie stellten im Frühjahr 1947 ihre Tauglichkeit vor den Landwirtschaftlichen Bundesbehörden und dem „Kuratorium für Technik in der Landwirtschaft“ eindrucksvoll unter Beweis, weil sie ein gemeinhin als unpassierbar geltendes Waldstück ohne Probleme meisterten. In der nächsten Phase wechselte das Projekt zu den Gebrüdern Boehringer nach Göppingen, wo Ende 1947 die Produktion ins Auge gefasst wurde. Die treibende Kraft jedoch sollte weiter aus Stuttgart kommen. Denn als Motor war ein Diesel von Daimler auserkoren.Die Reaktion bei der Publikumspremiere auf der DLG-Ausstellung 1948 in Frankfurt waren überwältigend und die Auftragsbücher nach der Messe prall gefüllt. Um die Nachfrage zügig befriedigen zu können, hätten in Göppingen über 40 Unimogs pro Monat montiert werden müssen. Doch die dafür nötigen 20 Millionen Mark konnte Boehringer nicht aufbringen. Deshalb meldete sich Daimler wieder zu Wort. Und statt längerfristiger Lieferverträge für die Motoren stand am Ende der Verhandlung eine komplette Übernahme. Die Produktion wurde nach Gaggenau im Schwarzwald verlagert und das Markenzeichen mit dem Kopf des Zuchtbullen um den Mercedes-Stern ergänzt.Der hat seine Strahlkraft bei Rauschers Exemplar mittlerweile ein wenig eingebüßt, ist stumpf geworden und wird längst nur noch von Kabelbindern am Kühlergrill gehalten. Denn all die Jahre auf dem Weinberg haben Spuren am Unimog hinterlassen. Der Lack ist matt und schrammig, das Leder der Sitze speckig, die Nähte sind aufgeplatzt und die Kabine starrt vor Schweiß, Staub und Dreck. Klar, wenn tatsächlich mal was kaputtgehen sollte, dann lässt es Rauscher natürlich gleich reparieren, selbst wenn er sich außer an eine streikende Lichtmaschine in den letzten Jahrzehnten an kaum einen Defekt erinnern kann. Doch den Wagen zu polieren oder gar zu restaurieren, das kommt dem Winzer nicht einmal im Traum in den Sinn. „Denn spätestens in ein paar Jahren sieht der doch wieder so aus“, sagt er beim Viertele in seiner Besenwirtschaft. Und ein paar Jahre wird der Unimog schon noch machen müssen. Ein paar viele. Denn einen anderen Wagen für seinen Weinberg kann sich der Winzer beim besten Willen nicht vorstellen.Sein Dienstwagen ist älter als er selbst. Denn wenn Weinbauer Andreas Rauscher die steilen Hänge im Neckar-Kessel bestellt, sitzt er in einem Unimog aus dem Jahr 1976. Und er denkt nicht im Traum daran, das zu ändern.
Fazit
Sein Dienstwagen ist älter als er selbst. Denn wenn Weinbauer Andreas Rauscher die steilen Hänge im Neckar-Kessel bestellt, sitzt er in einem Unimog aus dem Jahr 1976. Und er denkt nicht im Traum daran, das zu ändern.

Quelle: Autoplenum, 2021-07-02

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